Ronald Pierre


layoutMit Ronald Pierre ist Anfang September ein Gründungsmitglied unserer Gewerkschaft gestorben.
"Ronny", wie wir ihn alle nannten, hat bis vor wenigen Jahren im "Comité secondaire" und in der "Direction syndicale" des SEW entscheidend mitgewirkt; er musste aber schliesslich zu unserem grossen Bedauern infolge einer schweren Krankheit auf weitere Mitarbeit verzichten. Wir haben Ronny als lieben, aufrichtigen und äusserst gebildeten Menschen und Kollegen kennengelernt, der trotz seiner gesundheitlichen Probleme weiterhin geforscht und sich für die Verteidigung der erkämpften Rechte und die Umgestaltung dieser Gesellschaft eingesetzt hat. In diesem Sinne erscheint uns der folgende Nachruf von Dr Michel Pletschette als sehr zutreffende Schilderung einer starken Persönlichkeit, der wir hiermit Respekt, Dank und Verbundenheit bekunden wollen.

Die "Direction syndicale" des SEW/OGBL


Ronald Pierre, Humanistischer Lehrer und marxistischer Wissenschaftler


Ein Nachruf

Mit der Rückkehr zur Arbeitet erreichte uns die Nachricht des jähen Ablebens von Freund und Genossen Ronald Pierre.
Einige Worte zur Erinnerung
Ich erinnere mich an einen Nachmittag Anfang der Siebziger Jahre. Die Zeit großer Umbrüche. Eine angemietete Wohnung in Luxemburg, zum Lokal einer neuen Gruppe der radikalen Linken umfunktioniert
Ronald Pierre sagt "ich schlage vor dass wir zuerst den 18ten Brumaire des Louis Napoleon Bonaparte lesen und dann Lenins "Staat und Revolution".

Wer anders als Ronald Pierre konnte uns damals unter genauester Vorbereitung diese Bücher zum Lesen geben, Kapitel für Kapitel erklären, wer konnte auf Anhieb den Sinn des Datums 18ter Brumaire im Kontext des Namen Bonapartes zitieren, die Biografie und geschichtliche Rolle Guizots zitieren (1).Wir trafen uns jede Woche. Dutzende Werke wurden erklärt, deren Lesen noch von der Kirche vehement verboten wurde und heute süffisant belächelt wird. Die neue Intoleranz heißt Ignoranz, die alte hieß auch so.

Ronald Pierre war zuerst Gymnasiallehrer für Deutsch und Philosophie, erklärte Generationen Konjunktiv und Goethes Faust. Aber danach unter strikter Trennung mit den ersteren Aufgaben lehrte er Wichtigeres: Mir und sehr vielen anderen vermittelte er die Grundlagen der marxistischen Betrachtungsweise. Vielen aus dem Arbeitermilieu gab er den Zugang zum Gedankengut ihrer Klasse, aber am Ende allen zur Kultur überhaupt .

In dieser Zeit stand die Welt der Gedanken in Flammen, in diesem Land gab es zum Nachdenken aber nur eine in Osteuropa abgetragene Vulgate oder den obskuren Moralkauderwelsch der rechten Ideologie.

Die Alternative lag in dem was "Ronny" vermittelte: die reichen Ideen der weltumspannenden revolutionären Bewegung jener Zeit, aber auch die Gemälde Diego Riveras und Malevitchs, die Gedichte Garcia Lorcas und somit den Einblick in die großen Kapitel der Fortschrittsbewegung mit der akribisch detaillierten Erklärung für Sieg und Niederlage.

Ronald Piere war eine markante Persönlichkeit der radikalen Linken Luxemburgs.
Die Mobilisierung Ende der Sechziger Jahre gegen den obligatorischen Militärdienst und die Teilnahme an der Studentenbewegungen in Frankreich und Deutschland führte rasch zur Abspaltung einer Gruppe von der linken Studentenorganisation Assoss, die aber dann in zwei Strömungen zerfiel: eine von der chinesischen Kulturrevolution inspirierte Gruppe und eine auf die Quellen der durch den Weltkrieg geretteten anti-stalinistischen Opposition Leo Trotskys zurückgreifende Gruppe. Ronald Pierre misstraute aber immer grundsätzlich dem Diskurs der Macht, der Gewalt aber auch dem Selbstbetrug und den leeren Versprechungen des schnellen Erfolges

Sein Erfolg mit sich selbst und seinem Umfeld war das Resultat der kritischen Denkens: längst hatte er in den Schriften Mao Ze Dong's die Spur der dünnen Beamtenmoral des Konfuzius erkannt. Lenins Hagiographen mokierte er mit Beständigkeit, aber ewiges Misstrauen galt jenen die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten.

In seinen Vorträgen war überall die Warnung die Leistungsgrenzen einer historischen Persönlichkeit zu erkennen.

Mit großem Fleiß und Ungeduld steuerte er die Organisation des Luxemburger Trotskysmus, wehrte sich mit Geduld gegen die Kasuistik seiner sendungsbewussten Genossen, die allzu leicht hier wie im Rest Europas an ihrer übergroßen Aufgabe scheitern sollten.

Dennoch stellte diese Strömung das revolutionäre Gewissen dar, in dem der Fortschritt das Ziel und die Kritik die Methode ist.

Ein Gewissen, als Reaktion auf die stalinistische Besudelung und die elendige Not der kolonialen Befreiungskämpfe, rettete die Ehre der Linken.

Ronald Pierre's Denken war in breiten Kreisen wirksam; unbequem für jene, für die es nur Duckmäusern gab. So wurde er nach dem Schülerstreik 1971 in Diekirch nach Esch/Alzette relegiert, wohl in der irrigen Ansicht, seinen Einfluss auf ein konservatives Umfeld mindern zu können.

Die militante Disziplin an der Schreibmaschine, beim Verladen der Flugblätter barg aber eine andere Welt, die durch den Drang des Gelehrten zustande kam.

Systematisch erkundete Ronny, vom Marxismus herkommend, das Feld der großen materialistischen Philosophen der Antike, warb für Lateinunterricht mit einem historischen Exkurs über die Gracchen. Die Utopie wurde Wissen, die Hoffnung Reisen.

Ronald Pierre war in den vielen Komitees und Sammlungsbewegungen dieser Jahre die die Argumente des Freiheitskampfes der DrittenWelt in die Schlafstuben Luxemburgs, den Widerstandskampfs Chiles auf die Ebene der konkreten Solidarität brachten.

Angesichts des Scheitern der linken Bewegungen, in Europa eine lebensfähige Alternative zum zusammenbrechenden sowjetischen Verwaltungssozialismus aufzubauen, was er nicht zuletzt und gar mit Recht auf die Engen des eurozentristischen Denken zurückführte, wand er sich mehr und mehr der Erforschung der asiatischen Kulturen und Sprachen zu. Er immatrikulierte noch mal als regulärer Student der Sinologie, wobei nach und nach seine Beiträge zur Sinologie zunehmend internationale Anerkennung fanden

Seine fundierten Analysen der chinesischen Wirklichkeit erlaubten keinerlei Illusionen über die Natur des Regimes und den dort triumphierenden Manchester-Kommunismus.

Immer weitere Reisen plante und führte er durch mit einer an Pedanterie grenzenden Genauigkeit. Für seine Freunde waren seine Erzählungen und das mitgebrachte Material eine unübertroffene Bereicherung.

In der Mitte seines Lebens holten ihn die Folgen eines angeborenen Leiden ein. In den letzten Jahren, trotz eines Behandlungsdurchbruchs, wurde sein Bewegungsraum immer enger, das Leben plötzlich sehr hart. Unbeugsam nahm er alle Einschränkungen auf sich, denn es gab immer mehr zu tun, immer mehr zu schreiben.

Besonders am Herzen lag ihm seine kürzliche Neuentdeckung verkannter, unterdrückter oder verloren gegangener materialistischer Denker Indiens; in unserem letzten Gespräch zeichnete er die Alternative einer hoch entwickelten Gesellschaft vor dem Absturz in die Mystik, sein nächstes Werk, dessen Material er nicht mehr anpacken konnte .

Ronald Pierre hinterlässt ein Werk in vielen Fragmenten.
Bruchstückhaft liegt es vor uns, wie eben jener Sozialismus, die neue Gerechtigkeit für die er kämpfte sowie die uneingeschränkte Freiheit des Gewissens.
Sein letzter Kampf eben galt der" Liberté de Conscience". Es ward ihm nicht gegeben, die Bruchstücke wieder für uns zusammenzuführen, aber er teilte mit uns soviel von diesem Wissen - es wurde zu unserem Lebensinhalt.

Dr. Michel Pletschette