Was ist uns der neue "Werte-Unterricht" wert

05.10.2007

Die Pressekonferenz der CSV über die diesjährige rentrée scolaire versetzte einen Großteil der Luxemburger Öffentlichkeit in Angst und Erstaunen: die député-maire Hetto wagte es, wenn auch nur äußerst zaghaft, eine Bastion der rechtskonservativen Kreise in der Luxemburger Erziehungswelt in Schutt und Asche zu legen. Der altehrwürdige katholische „Religionsunterricht“ solle endlich ersetzt werden durch einen sogenannten „Werte-Unterricht“.

Die gekünstelte Überraschung vor allem der hiesigen Medien ist schon erstaunlich, denn Hettos Forderung ist klipp und klar nachzulesen im Regierungsprogramm vom 4.August 2004 der jetzigen CSV/LSAPKoalition (Kapitel 7). Unter der Rubrik Pilotschule „Ganztagsschule“ geht deutlich die Rede von „réaménagement de l'éducation aux valeurs“, also von nichts Geringerem als einem ganz neuen Fach, das sich zusammensetzen sollte aus einer Art Geschichte der Religionen sowie einer nicht näher definierten humanistischen Erziehung. Die aufgeregten, ja z.T. gehässigen (seitens des Generalvikars Schiltz) Reaktionen auf Hettos Überlegungen sind Zeichen entweder grenzenloser Hypokrisie oder naiver Ignoranz. Von einem unüberlegten Alleingang einer karrierebewussten Jung-Politikerin kann keine Rede sein, umso mehr, als man sich im MENFP schon seit etlichen Monaten mit der kniffligen Frage des „Werte-Unterrichts“ befasst.

Nun könnte man als fortschrittlicher, atheistischer Mensch leicht der Versuchung unterlIegen, die sich jetzt entwickelnde Debatte als mittelschweres ideologisches Erdbeben im sonst weltanschaulich erstarrten Luxemburg zu betrachten. Der verstaatlichte, mit Steuergeldern finanzierte katholische Unterricht wird gerade von der dem Bistum am nächsten stehenden Partei, der CSV, scheibchenweise demontiert. Wer hätte das noch vor einem Jahrzehnt für möglich gehalten. Ist das Ganze etwa zurückzuführen auf die sich auf ihre atheistischen Wurzeln zurückbesinnende LSAP, die in Sachen Trennung von Staat und Kirche einen „positiven“ Einfluss auf ihren übermächtigen Koalitionspartner ausübt ?

Wie dem auch sei, die alltägliche Praxis sowohl in Primär- als auch Sekundarschulen führt einem vor Augen, was der geplante „Werte-Unterricht“ auf keinen Fall sein darf. Im Fach „Religion“ fehlt es hinten und vorne an Nachwuchs-Lehrern/Innen. Die zu unterrichtenden Stunden können zu einem Grossteil nicht ohne den Einsatz schon pensionierter katholischer Theologen oder den Rückgriff auf KatechetInnen, die vom Bistum alleine ausgebildet werden, über die Bühne gehen. In Sachen „formation morale et sociale“, dem früheren „Laien-Moral-Unterricht“, sieht die Lage auch nicht besser aus. Im Primär-Unterricht wird zunehmend auf die sogenannten „chargés“, im secondaire auf soeben ernannte junge LehrerInnen oder auch auf chargés zurückgegriffen. Die Qualität dieses Fachs hängt in beiden Fällen vom persönlichen

Einsatz der Lehrbeauftragten ab. Dieser desolate Ist- Zustand ist denn auch wahrscheinlich der Hintergrund der durch die Regierung ins Leben gerufenen Kommission.

Die Ursache dieses Missstands ist jedoch rasch erklärt: Religion und Laienmoral zählen nämlich bei der Versetzung eines Schülers überhaupt nicht. Dies drückt sich in dem Alibi-Koeffizienten 1 im secondaire aus. Die Königs-Fächer der einzelnen Sektionen im technischen und klassischen Sekundar-Unterricht haben da schon wenigstens die Autorität der Koeffizienten 3 oder 4.

Und genau hier liegt auch der Prüfstein der geplanten Reform. Ein neues Fach „éducation des valeurs“ müsste ja eigentlich den Status eines der für das Weiterkommen eines Schülers kruzialen Fächer zugesprochen bekommen. In Zeiten, in denen die Interdisziplinarität der in unseren Schulen unterrichteten Programme richtigerweise als hohes pädagogisches Gut in den Himmel gelobt wird, käme ein Fach, das Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften gleichermaßen auf ihren ideologischen Gehalt untersucht - denn nur auf diese Weise entstehen kritische, selbstbewusste BürgerInnen - gerade richtig.

Die Debatten in der BRD der letzten Jahre über den sogenannten „Verfall der Werte“, der besonders von der politischen Rechten angeheizt wurde, sind zwar noch nicht auf Luxemburg übergeschwappt, was wahrscheinlich an der besonderen Art der Immigration (hoher Anteil katholischer Einwanderer) liegt. Doch auch bei uns sind in Zeiten der neoliberalen Globalisierung immer mehr Jugendliche verunsichert. Ein „Werte-Unterricht“ wäre in diesem Sinne möglicherweise ein lobenswerter Versuch, ein kleines bisschen Ordnung in die Köpfe der oftmals schlecht informierten Jugendlichen zu bringen.

Den Inhalten und pädagogischen Methoden und Mitteln kann bei der praktischen Durchführung nicht genug Beachtung geschenkt werden. Dabei muß jegliche Top-Down-Pädagogik, die zu einer Indoktrination führen wird, tunlichst vermieden werden. Die Ausbildung der Werte vermittelnden LehrerInnen spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Nach einem Master- Diplom müsste es zu einer fachspezifischen Ausbildung kommen, die auf einem vorher ausgewogen zusammengestellten Fach-Programm basieren sollte. Adäquate und hochwertige didaktische Mittel und Unterrichts-Methoden müssten sich erstrangig mit der ideologischen Rolle der Medien auseinandersetzen, denn es sind gerade die von ein paar wenigen transnationalen Konzernen dominierten Medien, die der uniformierten Mehrheit eine einseitige Weltanschauung tagtäglich durch subtilste Methoden vermitteln. Eine kritische Geschichte der Ideen und Ideologien in ihrem historischen Kontext wäre der zweite Dreh- und Angelpunkt des Werte-Fachs. Ein anspruchsvolles Unternehmen, das es seit der Einführung der „Connaissance du Monde“ auf der Mittel- und Oberstufe des technique und des Philosophie-Unterrichts auf einigen Sektionen der Oberstufe des classique im embryonalen Stadion schon seit längerem gibt. Man muss also nicht bei Null anfangen.

Den im Sinne der Aufklärung herbeigesehnten mündigen Schüler à la Wilhelm Meister wie mit dem Zauberstab hervorzuzaubern kann nicht das unerreichbare Ziel eines „Werte-Unterrichts“ sein. Trotzdem ist dieser ein Jahrhundert-Projekt, das auch so behandelt werden sollte. Nur die Bereitstellung ausreichender finanzieller und menschlicher Ressourcen seitens des MENFP kann dieses mit Leben erfüllen. Die erst langsam in die Gänge kommende Diskussion darf diese nackte Tatsache nie vergessen. Das Schlimmste wäre eine rein theoretische Diskussion, die sich auf die Inhalte des neuen Faches beschränkt. Die gegenwärtige, nicht praxis-bezogene, Debatte über die Kompetenz-Sockel im Sprachenunterricht ist hierfür ein abschreckendes Beispiel.

Patrick Harsch