Journal 1/2008:Von PIRLS nach PISA... unnötiger Umweg?

Da hat doch der PIRLS-Test den luxemburgischen Kindern (und ihren LehrerInnen) ein gutes Zeugnis ausgestellt für ihre Lesekenntnisse (dazu in einer Fremdsprache) nach dem 5.Schuljahr. Nach dem immer schiefer wirkenden PISA-Resultat (für 15-Jährige) ein eigentlich außergewöhnlich gutes Ergebnis, welches unserer Primärschule, im Vergleich etwa mit sportlichen oder kulturellen Leistungen hierzulande, höchste Anerkennung zukommen lassen müsste, auch wenn die SchülerInnen im Vergleich zum Ausland im Durchschnitt um 1 Jahr älter waren.
Aber dem ist nicht so!
Schulische Resultate sind äußerst stark durch soziokulturelle Herkunft der SchülerInnen geprägt, (neu, diese Feststellung, nicht wahr?) und: Die Kinder (und deren Eltern) mögen die Schule nicht so sehr.
Vielleicht haben beide Feststellungen ja auch zufällig etwas miteinander zu tun. Es ist in der Tat weder einfach noch bequem für die typisch luxemburgische Schülerpopulation mit bis zu 60% und mehr Nicht-Luxemburgern und deren LehrerInnen, ein solches Resultat zu erreichen, besonders in einem Land, wo zumindest materieller Wohlstand, Feierabend-und Funmentalität doch eher zum passiven Konsum als zum aktiven Umgang mit Büchern und Kultur anregen.
Eine Frage sei trotzdem erlaubt: Wie ist es möglich, dass dieselben Kinder innerhalb von 4 Jahren von PIRLS nach PISA absacken? Die Antwort scheint ganz einfach: Vor- und PrimärschullehrerInnen sind eben bessere PädagogInnen als ihre KollegInnen aus den Sekundarschulen, oder die Kinder werden mit zunehmendem Alter dümmer. Basta! Also mal auswechseln, sowie die Trainer in Sportsvereinen ausgewechselt werden, deren Resultate enttäuschen.
Oder ist es etwa doch komplizierter?
Könnten nicht auch die Trainingsbedingungen, das System, an dieser tragischen Evolution einen erheblichen Anteil haben? Ist es im Sport nicht meistens so, dass das Eliteteam sehr motiviert (weil auch als solches betrachtet) und leistungsbewusst auftritt und die Meisterkrone anstrebt, während zweite oder gar dritte Garnituren unter ferner liefen sich ein bisschen sportlich und gesellschaftlich die Zeit vertreiben, um nach und nach von der Bildfläche zu verschwinden, weil ihnen die (nicht mehr motivierten) Talente ausgehen? Aber genau das tut unser Schulsystem seit jeher: es grenzt aus, es selektioniert unerbärmlich, es schafft Unlust, Desinteresse, Demotivation und Desillusion, und das schon sehr früh, da ja auf die weiterführende Schule vorbereitet werden muß. Spätestens nach dem sechsten Schuljahr, also im Alter von 12 Jahren, werden die Weichen definitiv gestellt: man gehört zur schulischen Elite oder eben nicht. Bleibt noch der Versuch mit teuren Nachhilfestunden für die, die es sich leisten können, oder Privatschule im In- oder Ausland. Von innerer Differenzierung zur Förderung individueller Fähigkeiten in einer heterogenen Schulpopulation ist in unserem dreigliedrigen Schulsystem kaum etwas Konkretes zu melden. Die Resultate sind dementsprechend, obschon bestehende Modellversuche (auch hierzulande) eigentlich klare Hinweise liefern müssten, dass diese endgültige Trennung in ein dreigliedriges Schulsystem eine der größten Schwachstellen unserer Schule, nämlich ihre Unfähigkeit, soziokulturelle Unterschiede abzufedern, geradewegs fördert und zu den katastrophalen Resultaten führt, welche wir kennen.
Es wäre also durchaus angebracht, vielleicht wieder mal über (zumindest im konservativen Luxemburg) nie ernsthaft erprobte Utopien zumindest nachzudenken, welche eigentlich angestrebt haben, soziokulturell bedingte Nachteile durch eine möglichst nachhaltige Stimulation unter Gleichaltrigen (auch während der schwierigen Phase der Pubertät, wo das Lernen von Gleichaltrigen ja bekanntlich besonders intensiv geschieht) auszugleichen und dadurch das Schulniveau insgesamt zu heben.
Natürlich bräuchte man dazu ein bisschen Mut und Überwindung von alten Vorurteilen, sowie das passende Gewürz aus motivierten und gut aus- und weitergebildeten LehrerInnen, die dazu gewillt sind, auf gleicher Ebene miteinander im Team zu arbeiten, von der Vorschule bis zum Abschluss der Schulpflicht, angepasste Methoden und flexible, wirklichkeitsnahe Programme, Kooperation mit den Eltern und anderen Erziehungspartnern und pädagogischen Kräften, respektvollen Umgang mit den Auszubildenden, unterstützende Begleitprogramme für LehrerInnen und ehrliche Anerkennung ihrer Arbeit, hochkarätige und professionelle außerschulische Angebote, sowie die Biologie und Psyche der sich entwickelnden jungen Menschen berücksichtigende Frei- und Zeiträume für Spiel, Begegnung, Kommunikation, Bewegung, gesundheitsförderndes Essen, Erholung, Kultur im weitesten Sinne.
Wenn wir es dann auch noch fertig brächten, der Schule die Zeit und die Freiheit einzuräumen, Texte nicht nur zu lesen, sondern eine regelrechte Lesekultur zu fördern ( Sammeln und Umsetzen von Informationen in allen Bereichen ) mit kritischem Hinterfragen, könnten womöglich noch bessere Resultate erzielt werden, aber hoffentlich nicht nur im Interesse einer effizienteren Wirtschaftlichkeit, sondern zum Wohle des einzelnen als Mitglied einer gesunden, demokratiefähigen und gerechteren Gesellschaft.
Wie sehr das Denken, auch fortschrittlicher LehrerInnen, immer noch verschult ist, zeigt sich u.a. in der Darstellung des „Eis Schoul“ Modells, deren Autoren sich nicht scheuen, folgende viel sagende Definition in den Raum zu setzen:
„Eis Schoul bereitet ihre Schülerinnen und Schüler auf die weiterführenden Schulen ...vor.“ Eine traurige Aussage an sich (tempora non mutantur), die auch nicht dadurch erfreulicher wird, dass anscheinend viele Eltern nur darauf warten, von diesem Wundermittel für ihre Kinder zu profitieren. Denn die Bezeichnung „Ganztagsschule“ an sich kann doch wohl kaum die Attraktivität erklären, da zumindest in der Stadt Luxemburg ein qualitativ anspruchsvolles Ganztagsangebot flächendeckend besteht.
Ich vermisse besonders ein mutiges Gesamtkonzept, welches über die Grundschule hinausgeht, welches LehrerInnen und Fachleute aller Unterrichtsstufen an ein gemeinsames und fortführendes Programm bindet bis zum Abschluss der Schulpflicht.
Verpasste Chance oder politischer Kompromiss?
Die Pädagogisierung der kindlichen Entwicklung wird konkretisiert im pädagogischen Konzept von „Eis Schoul: „ Ganztägige GESTALTUNG des LEBENS und Lernens durch ein multiprofessionelles Team“.
Also: nicht nur das Lernen, sondern auch das LEBEN der Kinder soll voll pädagogisiert (gestaltet!) werden. So steht es zumindest einmal auf dem Papier. Auch das selbst gesteuerte Aneignen von Wissen aus spielerischen und ästhetischen Erfahrungen, welches sich das Kind außerhalb der Schule aneignet, und welches etwa 70 % des Wissens ausmacht, soll also in dieser Versuchs(Muster?)schule von Professionellen gestaltet werden. Die Eltern werden so stark mit einbezogen, dass auch nach der Ganztagsschule die Spuren dieser Superpädagogik die Familienprogramme bei jeder freien Stunde verfolgen, damit ja nur jeder so umworbene und pädagogisch betreute Zögling als glücklicher Mensch das Abitur schafft, um unserer hiesigen Arbeitswelt danach als zufriedene und hoch motivierte Arbeitskraft zur Verfügung zu stehen.
Dazu möchte ich Gerd E. Schäfer zitieren (aus: „Vom Kind zur Kunst und zurück, ästhetische Erfahrung als Grundlage frühkindlicher Bildung“, u.a. auch: „Bildung geschieht vor der Schule“):
„Lernprozesse, die nur die Realitätsgerechtigkeit und Rationalität kindlichen Denkens im Auge haben, lassen die Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit der Kinder unentwickelt. Damit ist Rationalität zwar leichter möglich; aber um den Preis von persönlichen Sinnfindungs- und Glücksmöglichkeiten.“
Falls dieses pädagogische Versuchslabor mit einer Armada von Professionellen der Pädagogik auf eine Handvoll Kinder losgelassen, den Weg von PIRLS nach PISA zu kennen ,zu meistern und zu glätten glaubt, dann wäre es äußerst ungerecht, alle anderen LehrerInnen, SchülerInnen, Eltern und ErzieherInnen weiterhin im Sumpf der traditionellen öffentlichen Schule, auf sich allein angewiesen und ausgeblutet, untergehen zu lassen.
Wir brauchen Mut zur Veränderung, auch pädagogischen, das stellt keiner in Frage, und viele Aussagen in diesem Artikel stellen sicherlich für viele eine Art billige Provokation und unnötige Kritik dar. Mir liegt es aber am Herzen, das Kind nicht auf dem Scheiterhaufen der Verschulung zu opfern, weil nach 2 PISAS und einem PIRLS irgendwie reagiert werden muss. Wir brauchen mehr als eine vielleicht wohlgemeinte politische Reaktion (wer wird die Lorbeeren ernten?), z. Bsp .auch endlich den Mut, die Schule als noch mehr Ratiofabrik in Frage zu stellen und sie ein bisschen zu entpädagogisieren, auch wenn das uns Lehr- und Lerndenkenden schwer fällt. Besonders die vielen Kinder, welche im System versagen, und es deshalb zumindest nicht lieben können, werden uns dafür danken, indem ihre Augen in der Schule und im Leben wieder leuchten dürfen.
„Eis Schoul“ ist für mich noch immer die öffentliche Schule für alle, zu der ich mich weiterhin bekenne; ihre Leistung verdient wieder mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung, sie braucht dringend Hilfe und Unterstützung, damit sie ihrer Aufgabe als positiver Integrationsfaktor in unserer Gesellschaft, den heutigen Anforderungen gemäß, gerecht werden kann. Es wäre kontraproduktiv, den Menschen zu vermitteln, dass diese öffentliche Schule eigentlich versagt, und dass man hoch motivierte LehrerInnen, Eltern und SchülerInnen nur noch in stark geförderten, mediatisierten und hoch gestylten Modellversuchen antreffen kann, und wo es zumindest, wenn überhaupt, jahrelang dauern wird, bis etwaige Erkenntnisse auf die Schule für alle übertragbar sind.
Das, was „Eis Schoul“ will, ist weder neu, noch einmalig, sondern das versuchen viele Lehrer und Lehrerinnen tagtäglich mühsam in ihren Klassen zu verwirklichen, leider oft ohne Unterstützung, und schon gar nicht publikumswirksam. Dies soll aber die mutigen LehrerInnen, ErzieherInnen und ExpertInnen, die aus ehrlicher Überzeugung das Wagnis eingehen, keinesfalls davon abhalten, die öffentliche Schule nach vorne zu bringen, das Resultat von PIRLS noch zu verbessern und einige dieser Erfahrungen auf PISA zu übertragen.
Aber werden die Schlussfolgerungen so ganz anders sein, als das, was wir eigentlich schon wissen? Hoffentlich geht nicht zu viel Zeit auf Umwegen verloren!
Membre du comité primaire du SEW