Neue Lehrer braucht das Land ?

12.09.2003

Im Rahmen der PISA Diskussionen wurden von vielen Seiten Ansprüche an die Schule geltend gemacht. Tradierte Selbstverständnisse müssen überdacht und herausgefordert werden, damit unsere Schule fit wird für die Wissens- und Kommunikationsgesellschaft der Zukunft. Ein neues Schulgesetz soll die Schule an die veränderten Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft und der Arbeitswelt anpassen. Wie weit das gelingen kann, sei hier dahingestellt. Schon im Vorfeld der Diskussionen hat das SEW die Gesetzespassagen verurteilt, die die pädagogischen Freiheiten des Lehrers stark einschränken und ihn zu einem fremdbestimmt funktionnierenden Rädchen in der mächtigen Schulmaschinerie werden lassen wollen. Hier soll nun der Versuch unternommen werden aufgrund der realen schulischen und sozialen Bedingungen, mit denen wir Lehrer täglich konfrontiert werden, ein Kompetenzprofil des „neuen Lehrers“ zu erstellen.

Die schnellen gesellschaftlich-kulturellen Wandlungsprozesse unserer Zeit lassen die Schule oftmals alt aussehen. Das öffentliche Selbstverständnis der Schule ist meistens geprägt durch die eigenen schulischen Erfahrungen, so dass Eltern und Politiker nur allzu gerne auf die vermeintlich „gute alte Schule“ hinweisen und so auf konservative Mittel und Wege zurück greifen um auf die veränderten Anforderungen zu reagieren. Wir sind uns alle einig: Wir brauchen besonders in Luxemburg eine hohe Qualität der Bildung der nachwachsenden Generationen, um auf die Anforderungen der Globalisierungen flexibel reagieren zu können.

Dabei sind die pädagogischen Berufe nicht nur abhängige Größen. Schule sollte nicht nur auf die Veränderungen der Gesellschaft reagieren, sondern wir müssen uns auch bewusst sein, dass strukturelle und kulturelle Veränderungen im Bildungsbereich zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen können.

Der moderne Lehrer findet neue Wandlungsprozesse und gesellschaftliche Rahmenbedingungen vor, auf die die meisten alten Schulrezepte, die heute in Luxemburg scheinbar wiederentdeckt werden sollen, keine Antwort bieten können. Schule sieht sich konfrontiert mit einer Pluralisierung der Lebens- und Familienformen. Die Freizeit der Kinder wird zusehens verplant und oftmals steht die Schule nicht im Mittelpunkt der Schüler- und Elterninteressen. Daneben sollte auch auf die ausgeweitete und ausdifferenzierte Nutzung von Medien und Informationstechnologien hingewiesen werden, die Eltern und etwas berufserfahrenere Lehrer manchmal überfordert und auf die unsere Schule kaum und nur sehr unzulänglich reagiert hat. Das Kompetenzprofil der Lehrer im Bezug auf neue Medien soll später noch besonders analysiert werden.

Es kommen also neue und zusätzliche Aufgaben auf die Schule und den Lehrer zu. Der Lehrer erkennt oft die Unerfüllbarkeit des Aufgabenspektrums und muss mit einem hohen Maß an „Lehrerschelte“ leben, sowohl von den Eltern wie auch gegen besseres Wissen von Seiten der Politik.

Ein deutlicher Wandel im System von Schule und Beruf, wo heute ein Arbeitnehmer im Laufe seiner Berufskarriere mehrere Berufe ausüben wird und sich stets weiterbilden muss, bedeutet auch für den Lehrer ein lebenslanges Lernen und Weiterbilden.

Um diesen Anforderungen gerecht zu werden muss eine hohe Professionalität im Lehrerberuf angestrebt werden. Der moderne Lehrer muss die Verantwortung für das eigene berufliche Handeln übernehmen und kontinuierliches Weiterlernen ist unerlässlich.

Ein weiteres Beispiel der veränderten Schullandschaft ist die Beziehung der Kinder (und auch der Eltern) zum Lesen. Die Lesefähigkeiten haben durch veränderte Lesegewohnheiten und gesteigerte Nutzung audiovisueller Medien, nachgelassen. Es ist klar, dass die Schule hier nicht vergangenen Zeiten nachtrauern darf, sondern das Angebot auf die veränderte Situation anpassen muss. Lesemotivation vermitteln und die nötige Medienkompetenz erarbeiten, damit der Jugendliche und später auch der Erwachsene sich mit der nötigen kritischen Distanz in unserer Mediengesellschaft mit seiner Fülle von Informationen und Desinformationen, behaupten kann.

In unserer Wissensgesellschaft kommt es nicht nur mehr darauf an, dass gelernt wird. Die Fülle des vermittelten Lehrstoffes hat seine Wichtigkeit verloren. Es kommt vielmehr darauf an, was gelernt wird und wie. Entscheidend ist, auf welche Weise über das Gelernte verfügt wird und wie das Lernen selbst gelernt wird. Das bedeutet, dass sich der professionelle Lehrer auf die Art der Organisation und die Durchführung der Lernprozesse konzentrieren muss. Lernen ist ein aktiver Prozess des Aufbaus von Wissen und von Kompetenzen. Über die Qualität des Lernens entscheiden das Ausmaß an innerer und äusserer Aktivität, die Planung und Überwachung des eigenen Lernens, so wie die Evaluation von eigenen Lernprozessen. Während man in den skandinavischen Ländern die Schüler schon im Kindergarten dazu führt eine eigene Evaluation der Lernprozesse zu machen und in Kanada die Lernfortschritte, sowie die Dokumentierung der Entwicklung der Persönlichkeit, in Portfolios festgehalten werden, bleibt unser Schulsystem beim Dogma der externen Benotung, wo Entwicklung und Fortschritte nicht belohnt und beachtet werden, was sehr demotivierend wirkt und in den Augen vieler Eltern die Schule auf das Erreichen möglichst guter Noten beschränkt. Weder Eltern noch Schüler (und Lehrer?) legen Wert auf den Erwerb der obengenannten Kompetenzen, sondern ihre Sicht der Schule ist beschränkt auf die (objektiven?) Noten.

Lernen findet in Umgebungen und Kontexten statt. Der Aufbau von Wissen und Kompetenz ist also immer ein sozial und kulturell bedingter Vorgang. Der Lehrer braucht die finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten um die Lernumgebung den Erfordernissen der Schüler anzupassen. Schulen müssen autonom funktionieren können, damit das Lehrerteam die Schule den lokalen sozialen und kulturellen Erfordernissen nach gestalten kann.

Das Lerngeschehen ist vielschichtig und komplex und bleibt dadurch sehr störanfällig. Es ist schwierig, Lernprozesse von außen zu bestimmen und anhand von Rezepten auszulösen. Es bedarf deshalb professioneller Lehrkräfte um auf bestimmte Ziele hinzusteuern.

Lehren und Erziehen sind untrennbare Facetten des Handelns von Lehrern, die dazu im schulischen Umfeld als Vorbild das soziale Geschehen moderieren. Sie bieten ihren Schülern Gelegenheit, ihr Können zu erproben und sich selbst zu erfahren in Auseinandersetzung mit den Lerngegenständen. Der Lehrer ist sich bewusst, dass er die Persönlichkeitsentwicklung von Schülern leicht unbeabsichtigt und unbewusst beeinflussen kann. Dies ist umso bedenklicher, da das angestrebte Ziel, aus den Kindern selbstbewusste, kritische, flexibele, motivierte Bürger, ausgerüstet mit den nötigen Kompetenzen für ein „life-long-learning“, fähig im Team zu arbeiten, niemals durch Lehrer vermittelt werden kann, die als Einzelkämpfer in einer strengen Hierarchie, sich im Rahmen eines Schulgesetzes bewegen müssen, in dem sogar die Schulbücher definiert werden und pädagogischer Freiraum nicht vorhanden ist. Der Lehrer als nach Rezepten handelnde Marionette ist definitiv das falsche Vorbild für die Schüler und kann seiner Rolle in der Gesellschaft gegenüber den Eltern nicht gerecht werden.

Der Lehrer hat die Aufgabe die unbewussten Einflüsse durch Reflektieren der Sozialisationseinflüsse zu verringern. Er muss dabei seinen eigenen Einfluss analysieren, sowie auf die institutionellen und organisatorischen Schulbedingungen achten. Das erfordert fundierte pädagogische und pädagogisch-psychologische Kompetenzen.

Der Lehrer ist sich natürlich der Grenzen seines Einflusses auf eine positive Entwicklung der Kinder und Jugendlichen bewusst, auch bedingt durch die Rolle und Verantwortung der Eltern. Trotzdem ist er für entsprechende Probleme sensibilisiert und muss gegebenfalls die Kontakte mit den entsprechenden Fachleuten knüpfen. Für die Zusammenarbeit mit außerschulischen Hilfseinrichtungen benötigt er die Fachsprache und Kompetenz zur Kooperation mit anderen pädagogischen Berufen (das gilt natürlich auch für Erzieher).

Der Lehrer diagnostiziert, beurteilt und evaluiert im Sinne des Wohl des Kindes und nicht nur um eine Benotung vorzunehmen, die auf normiertem Wissen basiert das zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erreichen ist. Die diagnostische Kompetenz des Lehrers hilft ihm die nötige Rückmeldung an den Schüler zu geben und die Lernerfolgsbeurteilung vorzunehmen, um durch geeignete und gezielte Maßnahmen den Schüler zu unterstützen.

Der Lehrer üperprüft dabei stets die Qualität des eigenen Unterrichts. Er setzt dazu selbstbestimmende Evaluationsverfahren zweckgemäß ein und kann sich selbst überprüfen. Externe Überprüfung des Unterrichts ist kaum durchführbar und hat sich in der Praxis als ineffizient für die Verbesserung der Unterrichtsqualität erwiesen.

Der Lehrer wird in seiner Laufbahn die eigene berufliche Kompetenz und die Schule weiterentwickeln. Das Beispiel der skandinavischen Schulen hat uns wieder gezeigt, dass Innovationen aus den Schulen herauskommen, wo sie von Lehrern, oft in Zusammenarbeit mit den Schülern, entwickelt werden. Reformen und Reförmchen „von oben“ bleiben zu oft realitätsfern und können und wollen von Lehrern in der Praxis nicht umgesetzt werden. Sie werden von Lehrern als politisch motivierte demagogische Maßnahmen erkannt, die sich meistens an trivialen, populistischen Meinungen über Schule orientieren. Qualitätssicherung und die Weiterentwicklung der Arbeit an den Schulen bedingt die berufliche Kompetenz im Kollegium der Schule. Kollegiale Ressourcen müssen genutzt werden. Die Kooperation ist ein zentrales Element für die Qualität unserer Schule. Teamarbeit muss systematisch gefördert werden. Der Einzelkämpfer hat ausgedient. Projektorientiertes, fächer- und klassenübergreifendes Arbeiten muss in verstärktem Maße Einzug in unsere Schulen halten.

Schule ist kein geschlossenes Milieu, die Kooperation mit Eltern und außerschulischen Einrichtungen muss verstärkt werden. Die Lehrer arbeiten vertrauensvoll und „grenzenbewusst“ mit den Eltern zusammen. Der Lehrer ist auch ausgebildet um Konflikte zu regeln, was nur gelingen kann, wenn er durch seine fachliche Kompetenz den nötigen Respekt von Eltern und Politik erhält. Unser System der Benotung steht dieser Zusammenarbeit im Wege. Eltern sehen im Lehrer nicht die kompetente Person, die ihren Kindern hilft, sondern denjenigen, der durch eine kaum objektive Form der Benotung, scheinbar willkürlich und auf eine nicht transparente Art, über die schulische Zukunft ihres Kindes entscheidet. Die Persönlichkeit des Schülers wird nicht beachtet und respektiert, das Kind wird meist auf die Fähigkeit Bücherwissen zu reproduzieren reduziert. Wobei sich die „Hilfe“ des Lehrers auf eine Verbesserung der Schulnoten beschränkt.

Aus den obengenannten Ansprüchen an die Lehrer geht hervor, dass seine Kompetenz auf wissenschaftlich fundiertem Wissen, situativ flexibel anwendbaren Handlungsroutinen (aber nicht ausschließlich) und Reflexionsformen beruht. Sie gestattet ein zweck- und situationsangemessenes Handeln.

Die neuen Medien stellen daneben neue Anforderungen an die Schule. Unterricht und Schule verändern sich durch den Einsatz der neuen elektronischen Informations- und Kommunikationstechnologien erheblich. Die Arbeit an Datenbanken und Datenbeständen (im Internet) und die enormen stets und überall verfügbaren Informationen verlangen die Fähigkeit Informationen kritisch zu filtern. Der Einsatz dieser neuen Medien, der in unseren Schulen nur scheinbar unterstützt wird, fördert und fordert selbstgesteuertes Lernen. Die Medien verlangen neue Kompetenzen beim Lehrer und bei den Schülern und verändern die Lehrerrolle. Der Lehrer steht nicht mehr im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens, sondern bekommt eine Rolle als Manager, der den Schülern beratend zur Seite steht, die Lernprozesse begleitet und das nötige Material zur Verfügung stellt. Diesen neuen Möglichkeiten und der Herausforderung scheint sich bei uns die Schule nicht stellen zu wollen. Nach langem anfänglichem Zögern haben die Medien in unseren Schulen Einzug gehalten, aber ihr Einsatz ist beschränkt, pädagogisch kaum sinnvoll und wird durch Curricula und Schulbücher fast gar nicht unterstützt. Wir brauchen deshalb eine Diskussion über den sinnvollen Einsatz dieser Medien in unserer Schule.

Ihr Potenzial kann nur ausgeschöpft werden wenn sie zielgerecht und didaktisch kompetent eingesetzt werden. Sie verlangen vom Lehrer Anwendungs-, Analyse-, Kommunikations-, Gestaltungs- und Managementfähigkeiten und bedingen somit eine Veränderung der Bildungspraxis.

Der Lehrer sieht sich daneben mit einer steigenden Anzahl von Lernsoftware konfrontiert, die meistens elementaren pädagogischen Anforderungen nicht gerecht wird.

Das wissenschaftlich fundierte Wissen dient dem Lehrer als Grundlage für Beobachtungen, Beschreibungen, Vorhersagen und Erklärungen. Mögliche spezifische Unterrichtssituationen sind höchst komplex, und wissenschaftlich nicht so erforscht, dass ein erprobtes Regelsystem von Rezepten bereitgestellt werden könnte. Der Lehrer muss also auf sein Fachwissen zurückgreifen können. In Sekundenschnelle generiert der Lehrer in einer Klassensituation ein soziales, motivationales und kognitives Geschehen, das in einem ständigen Fluss ist und stets eine eigene Dynamik entwickelt. Das verlangt soziales Geschick, eine gehörige Portion Einfühlungsvermögen, Gesprächsbereitschaft mit allen Schulpartnern, Engagement, Empathie, viel Geduld und Zuversicht gepaart mit Aufgeschlossenheit und einer großen Frusttoleranz. Er verfügt so über ein besonderes Berufsethos, das handelnde Wertmaßstäbe repräsentiert.

Seine zentrale Kompetenz bleibt dabei das Organisieren von Lernen und Lehren, eine gezielte Planung, Organisation, Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen. Das verlangt ein hohes Maß an Selbstorganisation und die gesellschaftlichen Veränderungen bedingen das Einarbeiten von Innovationen in Lehr- und Lernprozesse. Diese Selbstorganisation und das kontinuierliche Weiterlernen im Beruf befähigen den Lehrer Weiterbildungsmaßnahmen zum Ziele didaktisch-methodischer Weiterqualifizierung nach eigenen Bedürfnissen zu formulieren. Die Lehrer müssen in die Schulreformdiskussionen eingebettet werden und dürfen sich in diesem wichtigen Punkt nicht ihrer Verantwortung entziehen.

Die Aufgabe des Lehrens setzt ein wissenschaftlich begründetes Verständnis pädagogischer und pädagogisch-psychologischer Bedingungen von Lernen, Unterricht und Schule voraus.
Der Lehrerberuf ist deshalb ein akademischer Beruf. Er muss in einer modernen Gesellschaft eine Bedeutungssteigerung erfahren um seiner Aufgabe gerecht zu werden. Der Lehrer von morgen ist Psychologe, Soziologe und Neurologe.

Unsere Aufgabe wird es sein, das Leitbild des Lehrers in der Gesellschaft zu vermitteln und gegen das historisch gewachsene Bild des Lehrers als Handwerker, der nach Rezept leicht zu vermittelndes Wissen weitergibt, vorzugehen. Nur so kann es gelingen die Qualität der Schule zu verbessern und unsere Kinder haben das verdient.

* Lehrer bezieht sich im Text natürlich sowohl auf Lehrerinnen wie auch auf Lehrer. Der Lesbarkeit des Textes wegen, wird nur das neutrale Lehrer gebraucht.

Dieser Artikel wird auf der neuen Homepage (http://www.sew.lu) erscheinen. Reaktionen, Kritiken, Anregungen sind unbedingt erwünscht.

Patrick Arendt