Alarm? Tilt!

03.03.2020

Knattern. Rattern. Knirschen. Pingen und Zwitschern. Panische Blicke.

Frenetische Bewegungen. Hier und da Schreie. Fassungslosigkeit.


Am Sonntag, dem 9. Februar 2020, zog kurz vor Mittag ein Sturm über Luxemburg. Bei blauem Himmel, Sonnenschein und kompletter Windstille.

Ein Orkan fegte über Luxemburgs Lehrerschaft, ein digitaler Tsunami: WhatsApp-Gruppen alarmierten sich gegenseitig, Facebook-Freunde posteten pausenlos, Mails überfluteten Posteingänge, kurzum, der mobile Datenverbrauch explodierte!

Grund der Aufregung war eine Akutwarnung des „Richtungsweisenden Telekommunikationskanals der Lehrerschaft“ (kurz R.T.L.) vor dem tatsächlich aufziehenden Sturmtief Sabine (aka Ciara). Sturm- und Böenprognosen hatten das Bildungsministerium veranlasst, die Schulpflicht für den kommenden Tag aufzuheben. Alle Schüler sollten möglichst zu Hause bleiben, eine Notbetreuung an den Schulen werde jedoch garantiert. Am frühen Nachmittag wurde überdies ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Lehrer selbst nicht dienstbefreit wären.

Rückblick: Noch im Herbst letzten Jahres wurden den Präsidenten der Schulkomitees vom Bildungsministerium die im Falle einer Schulbefreiung geltenden Leitlinien in Erinnerung gerufen: Die Medien und die „acteurs-clés“ der Schulen würden zeitnahmit Hilfe des digitalen Frühwarnsystems „Alarmtilt“ informiert. Leider schien am Sonntagnachmittag niemand den Knopf für die flächendeckende Verbreitung einer derartigen (gezielten) Warnung gefunden zu haben. In Ermangelung einer offiziellen Mitteilung verfassten einige Präsidentenletztendlich auf Basis der „circulaire intempéries“ eigene Mitteilungen an die Lehrer ihrer Schule, waren sie doch im Laufe des Tages immer wieder die Anlaufstelle für deren FAQs. Erst am frühen Abend wurden die Präsidenten von den Regionaldirektoren angerufen: Doch statt der ersehnten konkreten Informationen aus erster Hand ging es bei dem Telefonat lediglich darum, dem Bildungsministerium zu versichern, dass die - schon Stunden zuvor - in den Medien angekündigte Betreuung auch tatsächlich garantiert sei…

Zeitgleich verschickten die Direktoren unter ihrem eigenen Namen eine eher belanglose Mitteilung des Bildungsministeriums, die die Lehrer darauf hinwies, dass sie die Seiten „infocrise.lu“ oder „cgdis. lu“ besuchen, respektive sich über die Medien informieren sollten, um sich über die Entwicklung der Lage einen Überblick zu verschaffen... Gerade letzter Hinweiswäre unnötig gewesen, verfolgten zahlreiche Lehrer doch schon seit Stundenden Liveticker der „Realen Telekratischen Lehrerinformationsstelle“ (kurz R.T.L.),seit Jahren eh die Plattform, wenn Lehrer Neues bezüglich ihrer Arbeit erfahren wollen. Der Bevölkerung wurde nahegelegt, die Wohnungen nicht zu verlassen, nur im Ausnahmefall mit dem Auto zu fahren, Strecken durch bewaldete Gebiete zu meiden... Zu sehr durften sich die Luxemburger Lehrer diese Empfehlungen nicht zu Herzen nehmen, wurde doch von ihnen erwartet am kommenden Tag die Stellung zu halten. Werden Lehrer offensichtlich nicht von den Verantwortlichen des Bildungsministeriums als „acteurs clés“ angesehen, so scheint der Beruf des Lehrers immerhin von Menschen besetzt zu sein, die über Superkräfte verfügen, da sie augenscheinlich gegen jedes noch so widrige Wettergeschehen gefeit sein müssen. Doch in Zeiten, in welchen freistehende Lehrerstellen schnell und unkompliziert durch Quereinsteiger besetzt werden, scheint der mögliche unfallbedingte Ausfall eines Lehrers keine große Sache zu sein.

Aber auch die Sicherheit jener Schüler – Kinder berufstätiger Eltern – welche nicht zu Hause betreut werden konnten und somit zu Familie/Freunden oder aber dennoch in die Schule gebracht werden mussten, schien nicht den gleichen Stellenwert zu haben, als die ihrer Alterskollegen. Hier oblag es den Eltern, abwägend eine Entscheidung zu treffen, oder auch nur, auf das Beste zu hoffen.
Dies tat man auch an den Schulen. Waren die Lehrer selbst auch nicht vom Dienst befreit, so war im Vorfeld nicht abzusehen, wie viele von ihnen oder auch wie viele Schüler sich tatsächlich einfinden würden. Ob Starkregen für Überschwemmungen sorgen würde, ob Bäume Straßen versperren, schwere Sturmböen Unfälle verursachen, Dächer abgedeckt werden würden – all dies ließ sich am Sonntagmittag nicht voraussagen. Dennoch: Die vielen Krisensitzungen, die ungezählten Warnungen, die Befreiung von der Schulpflicht konnten nur bedeuten, dass es dieser Sturm in sich haben würde: Er würde wüten. Er würde zerstören. Er würde Blutzoll verlangen...

Letzten Endes war die Wetterlage glücklicherweise weniger herausfordernd als befürchtet, und während die Lehrer in pleno die Schulen füllten, ließen die Schüler auf sich warten. An nicht wenigen Schulen übertraf die Zahl der anwesenden Lehrer die der Schüler. Einige Direktoren erlaubten den Lehrern sich im Kollegium abzustimmen und sich in den Schulen abzuwechseln – somit war eine Aufsicht der anwesenden Schüler 1493766099880.jpggarantiert, auch wenn nicht durchgehend alle Lehrer anwesend sein mussten – doch bei Weitem nicht alle Direktoren genehmigten eine solche Regelung: Scheinbar vom Kontrollwahn übermannt, ließen sich einzelne Direktoren gar die Anwesenheit jeder einzelnen Lehrkraft bestätigen. Es mutet überdies sonderbar an, dass es selbst für die Lehrer, die sich die Aufsicht aufteilen durften, keine entsprechende offizielle schriftliche Mitteilung gab, die den Lehrern im Zweifelsfall auch als Beleg und Absicherung hätte dienen können.

Das Bildungsministerium täte gut daran, eine eigene Version der „circulaire intempéries“ gezielt für die Regionaldirektionen zu verfassen, vielleicht mit „guidelines“, „recommandations“ und andere „best practices“, vor allem aber mit Fokus auf den „gesunden Menschenverstand“ statt Prozedurwahn und Selbst- und Absicherungsmaßnahmen für die Führungsebene. Es steht keinesfalls zur Diskussion, dass gerade Ausnahmesituationen nach klaren Prozeduren verlangen – doch müssen diese dann auch im Vorfeld transparent allen Beteiligten bekannt sein und eingehalten werden. So macht es bspw. keinen Sinn eine digitale Plattform als essenziellen Teil eines Frühwarnsystems vorzusehen, wenn die dann letzten Endes nicht genutzt wird/werden kann/werden soll/ja, keinen Nutzen bringt. Kann man nach den Erfahrungen mit dem (nicht vorhergesagten) Tornado vom 9. August 2019 eine übervorsichtige Herangehensweise an eine möglicherweise extreme Wetterlage auch verstehen, so hätte man die Bevölkerung auch vornehmlich darüber informieren können, dass ein Sturmtief in den kommenden Stunden über Mitteleuropa ziehen würde, schulfrei nicht ausgeschlossen sei, die Lage am Montagmorgen aber noch einmal neu beurteilt und im Anschluss eine entsprechende Empfehlung ausgesprochen werden würde. Die Art und Weise (und die Zeitspanne) in der dieses Mal vor dem herannahenden Sturm gewarnt wurde, die sehr früh getroffenen „Sicherheitsmaßnahmen“ - all dies führte vorrangig zu einer Verunsicherung der Bevölkerung, nicht zuletzt der Kinder. In Zeiten von „Fridays for Future“ haben viele Heranwachsenden jetzt schon Angst vor einer bevorstehenden wie auch immer gearteten Klimakatastrophe, der sie sich hilflos gegenübersehen. Und nun wurden auch bei „Sabine“ primär Ängste erzeugt, ohne dass allgemein gültige Auswege aufgezeigt worden wären. So lange bspw. berufstätigen Eltern bei extremen Witterungsbedingten keine Freistellung zusteht, so lange macht es in der Tat nur bedingt Sinn, auf der einen Seite die Schulpflicht aufzuheben, um auf der anderen Seite eine Notbetreuung an den Schulen zu organisieren.

Rät die „circulaire intempéries“ die Lehrer für die Sicherstellung der Notbetreuung auszumachen, die ihre Schule am „unproblematischsten“ erreichen können, so zeigte gerade der Tornado, dass selbst kurze Wegstrecken große Gefahren bergen und weitaus problematischer sein können, als sie es auf den ersten Blick zu sein scheinen: Hätte man am 9. August problemlos von Redingen nach Remich fahren können, hätte es im Südwesten des Landes bereits lebensbedrohlich sein können, lediglich vor die Haustür zu treten. Vielleicht müssten die Lehrer im Rahmen der Frühwarnung bereits am Vorabend in der Schule, resp. der Sporthalle einquartiert werden, um so eine optimale Betreuung ihrer Schüler am darauffolgenden Tag sicherzustellen. So wie schwangere Frauen vorsorglich eine Kliniktasche packen, könnten Lehrer ihrerseits auch eine Notfalltasche ständig griffbereit zu haben.

Aus dieser neuen Posse könnten (auch ganz ohne Einsatz teurer Consulting-Firmen) richtungsweisende Schlüsse gezogen werden, würde man denn mit den Lehrern reden (einfach nur zuhören wäre schon ein Anfang…). Auf den Einsatz performanter Frühwarnsysteme muss nicht nur vermeintlich, sondern auch tatsächlich gesetzt werden, letztere sollen jedoch genau das sein, wofür sie konzipiert wurden, nämlich antizipative Warnsysteme. Letzten Endes müssen Daten von Menschen analysiert, Gefahren und Gefährdungen regelmäßig abgewogen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen klar und präzise übermittelt werden. Doch vor allem: Das Erstellen einer funktionierenden Kommunikationskette mit stufenweiser Erhöhung der Maßnahmen auf Grundlage in regelmäßigen Zeitabständen stattfindenden Analysen neuer Informationen und Daten ist unabdingbar.

Gerade die Tatsache, dass das Herannahen des Sturmtiefs bekannt war und entsprechend viel Zeit blieb, um Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen einzuleiten, hätte ein Garant dafür sein müssen, dass alle Beteiligten gut vorbereitet und mit klaren Vorgaben auf diese Ausnahmesituation hätten reagieren können. Dass dies nicht der Fall war, lässt einen noch weniger optimistisch als ohnehin auf größere Katastrophen wie bspw. einen eventuellen Nuklearunfall schauen: „Bei Alarm: Tilt?“

jola