Leerer werden in Luxemburg

Leerer werden in Luxemburg
Zum ersten Mal seit der Einführung der Admission Conditionnelle, welche Studierenden erlaubt, den „Bachelor en Sciences de l’Education“ auch mit einem größeren Defizit in einem der drei Fachbereiche Französisch, Deutsch oder Mathematik zu belegen, hat die Universität Luxemburg offizielle Zahlen zur Lehrerausbildung veröffentlicht.
Im Bewusstsein ihrer Verantwortung einerseits für die Qualität des Lehramtsstudiums, andererseits aber auch dafür Jahr für Jahr genügend Lehrer auszubilden, entschied sich die Uni 2013/2014 dafür, auch Studenten aufzunehmen, die nicht alle Anforderungen an Lehramtskandidaten erfüllten – unter der Bedingung, dass diese Schwächen im Laufe des Studiums aufgearbeitet würden. Auf Dauer aber scheinen die Verantwortlichen nur eine Lösung für dieses nun seit Jahren anhaltende Problem zu sehen: Um auch in Zukunft noch genügend Lehramtsstudenten ausbilden zu können, wird mittlerweile laut über einen Grundschullehrer nachgedacht, „der ein oder zwei Fächer weniger gut beherrscht und diese Fächer dann auch nicht unterrichtet, eine Art Generalist minus x“ (LW 28.03.2019). Eine derartige Rekrutierungspolitik wäre mit einem Paradigmenwechsel vergleichbar und so stellt sich die Frage nach ihren Auswirkungen auf Schüler, Schule und Gesellschaft.
Der „Generalist minus x“: Eine multiperspektivistische Analyse
In Luxemburg ist das Studium der angehenden Grundschullehrer so ausgerichtet, dass die Lehrer später Kinder im Alter zwischen drei und 16 Jahren und demgemäß alle in den verschiedenen Jahrgangsklassen anfallende Fächer unterrichten können. Eine ungenügend hohe Zahl von Lehramtsanwärtern, die keine Defizite in einer Sprache, der Mathematik oder gar den Naturwissenschaften aufzeigen, scheint dieses Modell zu gefährden, erklärt aber den Ruf nach einem „Generalisten minus x“.
„Wenn also ein einziger Lehrer nicht in der Lage dazu ist, alle Fächer zu unterrichten, wie kann man dann von einem einzigen Schüler erwarten, alle Fächer zu beherrschen?“ Quelle unbekannt
Während sich unweigerlich die Frage nach den Ursachen für diese Situation aufdrängt (der hoffentlich an anderer Stelle nachgegangen wird), stellt sich ebenfalls die Frage, wie sich dieses neue Modell auf Schülerinnen und Schüler auswirken würde? Versuch einer Analyse:
Der „Generalist minus x“ aus der Perspektive der Schüler
In einer sich rasch verändernden Gesellschaft mit steigendem Betreuungsangebot befinden sich immer mehr Kinder einem ständigen Wechsel von Betreuungspersonen ausgesetzt. Der Klassenlehrer, der in der Regel in der Grundschule 23 Stunden pro Woche im Klassenverband unterrichtet, wurde für manches Kind zur einzigen Konstante, zur Vertrauensperson. Der Einsatz von Fachlehrern wird zwangsläufig dazu führen, dass viele unterschiedliche Lehrer in einer Klasse unterrichten, so dass die individuelle Bindung zu einer bestimmten Schülergruppe oder zu einem einzelnen Kind geringer werden dürfte, die Schüler sich mehrmals am Tag auf unterschiedliche Lehrer einstellen müssen.
„Ein guter Lehrer bleibt ein Schüler bis an das Ende seiner Tage.“ Chinesisches Sprichwort
Konnte bislang von angehenden Grundschullehrern erwartet werden, dass ihre sprachlichen Fähigkeiten in Französisch und Deutsch, resp. Luxemburgisch, sowie
ihre mathematischen Kenntnisse über jenen der von ihnen unterrichteten Schüler liegen, so stellt sich die Frage, ob eine „Spezialisierung“ nicht einen zusätzlichen Ansehensverlust für die Funktion des Lehrers mit sich bringt, entspringt sie doch nicht einer besonderen Fähigkeit, sondern eigentlich einem Mangel.
Um den Schülern Einblick in die gesellschaftliche Wirklichkeit zu geben, bedienen sich Lehrer aktuell - aufbauend auf einer soliden Grundausbildung und einer guten Allgemeinbildung - des didaktischen Prinzips des „fächerübergreifenden Unterrichts“. Sollten Grundschullehrer fortan nicht mehr alle Fächer unterrichten, bleibt schwer erkennbar, wie Schülern zukünftig die großen Zusammenhänge sichtbar gemacht, wie einzelne Begebenheiten aus verschiedenen Sichtweisen analysiert, grundlegende Elemente und regelhafte Strukturen in Beziehung zu anderen Geschehnissen gesetzt werden könnten. Bei einer fachspezifischen Einschränkung entfällt die Möglichkeit, dass „ein thematisch-inhaltlicher Zusammenhang erkennbar wird und eine Problemlösung oder Problemlösungsalternativen aus verschiedenen Blickwinkeln heraus entwickelt werden können“ (Moegling, 2014).
Doch wären dies nicht die einzigen Auswirkungen von „Generalisten minus x“:
Der „Generalist minus x“ aus der Perspektive der Schule
Aktuell sorgt die Uni für eine solide Grundausbildung und ermöglicht den Studierenden Praktika in den verschiedenen „ordres d’enseignement“, sprich Vorschule, Grundschule, ESEB und Voie Préparatoire. Das Erlernte kann somit praktisch angewandt werden, parallel kann der Studierende auch etwaige Vorlieben für Jahrgangsstufen oder Schularten bei sich feststellen. Doch gerade dieses breite Spektrum an „ordres d’enseignement“ bietet den Lehrern später berufliche Perspektiven in ihrer Funktion, die ansonsten meist wenig berufliche Veränderungen mit sich bringt.
„Spezialisierte“ Lehrkräfte werden die Einzelschulen vor neue Herausforderungen stellen. Ihre eingeschränkte Einsatzfähigkeit wird die Eingliederung in das Lehrerkollegium prägen. Die neue fachspezifische Segmentierung der Woche wird die Komplexität der Erstellung des Stundenplans erhöhen. Haben sich bisher im Regelfall die Lehrer auf das Unterrichten bestimmter Altersgruppen eingestellt (einzelne Zyklen), so wird diese Art von Spezialisierung der neuen Fachspezialisierung weichen müssen.
„Ich habe erfolgreich die Uni abgeschlossen“ Peter. Hausmeister an einer Uni
„Spezialisierte“ Lehrkräfte werden die Einzelschulen vor neue Herausforderungen stellen. Ihre eingeschränkte Einsatzfähigkeit wird die Eingliederung in das Lehrerkollegium prägen. Die neue fachspezifische Segmentierung der Woche wird die Komplexität der Erstellung des Stundenplans erhöhen. Haben sich bisher im Regelfall die Lehrer auf das Unterrichten bestimmter Altersgruppen eingestellt (einzelne Zyklen), so wird diese Art von Spezialisierung der neuen Fachspezialisierung weichen müssen.
Gerade kleinere Schulen würden jonglieren müssen, um die Stundentafel noch aufzustellen, wären die neuen Kollegen doch aufgrund ihrer „Spezialisierung“ nur bedingt einsetzbar. Größere Schulen hingegen (mit de facto mehr freien Lehrstellen) befinden sich oft in Ballungsgebieten, nicht selten in sozioökonomisch oder soziokulturell benachteiligten Gegenden. Applizierte man das oft angesprochene Prinzip der Chancengleichheit, müssten gerade an diesen Schulen die besten Lehrer angestellt werden, die Allrounder mit breitem Allgemeinwissen und hohen sprachlichen Kompetenzen und eben nicht die „Fachspezialisten“, deren Spezialisierung aus einem Defizit resultiert. Kleine Schulen, große Schulen - den vorangegangenen Überlegungen zufolge wird die
Einstellung von „Generalisten minus x“ für beide zur Herausforderung.
Der „Generalist minus x“: Perspektiven aus gesellschaftlicher Sicht
Hat in den letzten Jahren die Komplexität des Lehrerberufs zugenommen, wurde gleichzeitig dessen Attraktivität durch verschiedene politische Entscheidungen so unterminiert, dass es schlussendlich zum - nun oft thematisierten - „Lehrermangel“ kam.
Aus dieser Not heraus wurde „Quereinsteigern“ Zugang zum Lehrerberuf gewährt. Wenn auch für die Luxemburger Schule eine Neuheit, so wird diese Lösung schon seit einigen Jahren im Ausland praktiziert. In einer ersten Phase konnte das Unterrichtsministerium auf eine Vielzahl von Kandidaten zurückgreifen, die bereits auf Lehramt studiert hatten, doch entweder die „Préliminaires“ nicht geschafft hatten, oder durch unvollendete Lehrerausbildung (fehlende ECTS, Nachbereitung des Mémoire, „Noexamen“,…) nicht zum „Examen-Concours“ zugelassen werden konnten. In den kommenden Jahren dürfte der Prozentsatz dieser Art Kandidaten abnehmen.
Werden die Quereinsteiger als „Retter in der Not“ gefeiert und ihre Eingliederung in den schulischen Alltag gar als Bereicherung für die Schulen angesehen, so wird gerne übersehen, dass hiermit „auch Leute in den Beruf kommen, denen wesentliche Persönlichkeitsmerkmale fehlen, die man für die Arbeit mit Kindern braucht“ (Meidinger, 2018).
„Das Schicksal einer Gesellschaft wird dadurch bestimmt, wie sie ihre Lehrer achtet“ Karl Jaspers
Reguläre Lehramtsanwärter werden in ihrer vierjährigen universitären Ausbildung in den verschiedensten Bereichen ausgebildet und geprüft, absolvieren zudem zweimal jährlich ein 4-5 wöchiges Praktikum, zweimaliges Durchfallen gilt als Ausschlusskriterium vom Studium. Zumindest muss man anerkennen, dass die zukünftigen „Generalisten minus x“ im Vergleich zu den meisten Quereinsteigern in jedem Fall ein pädagogisches Studium in den „Sciences de l’Education“ an der Uni abgeschlossen haben. Als Reaktion auf das Aufkommen von „spezialisierten“ Lehrern und Quereinsteigern in der Regelschule werden viele Eltern möglicherweise ihre Kinder verstärkt an Profil- oder Privatschulen einschreiben.
Der Wunsch nach einer angemessenen Bildung wird besorgte Eltern sich nach Schulen umsehen lassen, welche über eigene, strengere Kriterien zur Einstellung von Lehrkräften verfügen. Jagen Profil- respektiv Privatschulen der Regelschule die gut ausgebildeten Lehrer ab, werden öffentlichen Schulen auf Dauer ihren Schülern nicht mehr den bestmöglichen Unterricht bieten können. Somit stellt sich die Frage, inwieweit der Staat, als Verantwortlicher für das Schulwesen, eine derartige Entwicklung hinnehmen kann. Diese aufkommende Segregation wird die Luxemburger Gesellschaft spürbar beeinflussen. Dabei übernimmt gerade im Luxemburger Kontext die Regelschule eine wichtige Aufgabe betreffend soziale Kohäsion, insbesondere mit Blick auf den sogenannten „nation-building“-Prozess.
Generalist minus x: Sollte dieses Experiment wirklich gewagt werden?
Eine Adaptation des Lehramtsstudiums an die mangelnden (vor allem sprachlichen) Kompetenzen der Lehreranwärter bedeutet keinesfalls eine „Marginalisierung der Wissenschaft“ (Ladenthin, 2019), die Uni bietet weiterhin hohe Standards an; Sprachdidaktik kann unabhängig einer spezifischen Sprache (ob Deutsch oder Französisch) gelehrt werden. Ihrer Aufgabe als Ausbildungsstätte für Lehreranwärter käme die Uni demgemäß auch bei der Qualifizierung eines „Generalisten minus x“ nach, würde sie doch den Studenten weiterhin ein Studium auf wissenschaftlichem Niveau angeboten.
Und dennoch: Sollte nicht gerade Lehrern daran
gelegen sein, Schwierigkeiten zu überwinden, eigene Schwächen aufzuarbeiten? Sind hierfür doch genau jene Eigenschaften vonnöten, die auch von Schülern im Rahmen ihrer schulischen Lernprozesse erwartet werden.
Aufgrund dieser Erkenntnis scheint es von Bedeutung, dass zukünftige Lehreranwärter über die notwendige sprachliche Kommunikationsfähigkeit verfügen, bevor sie das Studium antreten.
Sollten die Schüler nach Abschluss der Sekundarstufe in Mathematik oder einer der Amtssprachen Luxemburgs erhebliche Mängel aufweisen, sollten Strukturen zur Behebung dieser Defizite etabliert werden, sozusagen ein „Studienanwärter plus x“ geschaffen werden.
Einem Abiturienten mit einer Schwäche in einem der oben genannten Fächer, der eine Laufbahn als Grundschullehrer anstrebt, müsste die Möglichkeit geboten werden, Vorbereitungskurse zu belegen, um seine spezifischen Defizite zu beheben, um infolge eine solide fachwissenschaftliche und fachdidaktische Ausbildung in sämtlichen Unterrichtsfächern anzustreben. (Wer in Frankreich die „Grandes Ecoles“ besuchen möchte, absolviert mindestens ein Jahr in einer „Classe préparatoire“.)
„Man muss viel gelernt haben, um über das, was man nicht weiß, fragen zu können.“ Jean-Jacques Rousseau
Entsprechende Vorbereitungskurse könnten eine Ausbildung zum „Remplaçant“ vorsehen und so dem Lehramtsanwärter überdies die Möglichkeit bieten, als Kurzzeitersatz für kranke Lehrer Einblicke in die Arbeit an Grundschulen und damit einen Vorgeschmack auf den künftigen Beruf zu bekommen.
Erst das Modell eines „Studienanwärters plus x“, als Antipode zum „Generalisten minus x“ würde den Ansprüchen des immer komplexer werdenden Berufs des Grundschullehrers gerecht werden, ohne einen Großteil möglicher Studenten von vorneherein auszuschließen. Auf die Kritik, dass ein zusätzliches Ausbildungsjahr die Attraktivitätskrise dieser Profession eher verschärfen als verbessern dürfte, muss eine klare politische Äußerung zur Bedeutung der Arbeit der Lehrer für die Gesellschaft erfolgen. Das Lehrer-Bashing aus den vergangenen Jahren und rezent die unglückliche Umsetzung des Stage haben dazu geführt, dass junge Leute diesen Beruf verschmähen. Ist die Grundausbildung der künftigen Bürgergeneration der Politik wichtig, müssen auf allen Ebenen klare und vor allem unterstützende Botschaften erfolgen. Denn…
„Nichts ist schrecklicher als ein Lehrer, der nicht mehr weiß als das, was die Schüler wissen sollen. Wer andere lehren will, kann wohl das Beste verschweigen, was er weiß, aber er darf nicht halbwissend sein.“ (Johann Wolfgang von Goethe, 1829)
Olivier Jentges, Member vum Comité Fondamental
Literaturnachweis:
Busana, G. (2019) in Gantenbein, M. (28 März 2019). Lehrer verzweifelt gesucht. Luxemburger Wort
Ladenthin, V. (2019). Lehrerausbildung an der Universität. Wie man Wissenschaft marginalisiert und zur Akzeptanzbeschaffung umfunktioniert. Vortrag am 04. Mai 2019 in Wuppertal
Moegling, K. (2014) Transparenz beim fächerübergreifenden Lernen – Ein notwendiges Kriterium für die Intensivierung fächerübergreifender Lernprozesse. Abgerufen am 01.06.2019 von http://www. schulpaedagogik-heute.de/SHHeft14/03_Praxisartikel/03_19.pdf
Meidinger, H-P. (2018) Quereinsteiger: Neue Köpfe an den Schulen. Abgerufen am 01.06.2019 von https://www.dw.com/de/seiteneinstieg-in-den-schuldienst/a-45636918